Myrtax - Haltbar gemachter Sklave

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16. Verolin 7347 Vierte Ära NL

Kurz nach dem Sonnenuntergang

Myrtax

 

 

 

Myrtax stand vor der Tür des Adelspaares und wartete. Dies tat er bereits seit etwa einer Stunde. Die beiden Wachen ignorierten ihn, seitdem sie ihn angekündigt hatten. Sowohl Rovinna als auch Silal waren beide wach, er hatte ihre Stimmen gehört, aber sie schienen ihn erstmal nicht empfangen zu wollen. Ob als Strafe oder weil sie beschäftigt waren, wusste Myrtax nicht zu sagen.

Mittlerweile benötigte er den Schutz für seinen rechten kleinen Finger nicht mehr. Von dem abgetrennten Finger war nicht mehr viel übrig geblieben; die Haut hatte sich über der Wunde geschlossen und nur noch ein kaum sichtbares Narbengewebe war von der schmerzhaften Bestrafung übrig geblieben. Dennoch erinnerte sie jeden Vampir daran, dass seine eigentlich weiße Weste Flecken bekommen hatte. Eine Flasche Blutwein zerbrach man einfach nicht und offenbar vertauschte man auch nicht die Farben der Kissen für das Herrscherpaar mit denen der Kinder oder Vertrauten.

Das war für Myrtax eine wichtige Lektion gewesen: Joaquin auf keinen Fall mehr vertrauen. Normalerweise hatte er den anderen Sklaven ein gesundes Misstrauen entgegengebracht, aber er hatte nicht erwartet, dass ein anderer Sklave ihn so sehr hassen konnte.

Der Verlust seiner Eltern wog immer noch schwer auf seinem Gemüt. Mittlerweile hatte er auch mitbekommen, was der Familie von Marseille zugestoßen worden war. Noch lebten sie, waren aber auf einer kleinen Farm draußen zwischen dem Ebenholzdickicht und den Donnerbergen untergebracht worden. Soweit Myrtax es herausgehört hatte, wurde die Farm von Vampiren geleitet und so waren sowohl die Eltern als auch die beiden Schwestern und der Bruder dort als unfreiwillige Gäste untergebracht und wurden als Druckmittel benutzt.

Für Myrtax war dies nicht wirklich relevant. Wenn es nach ihm ginge, würde er die Geschwister vor den Augen der Eltern im Sonnenlicht rösten; vorher hätten sie natürlich genug menschliches Blut getrunken, um wenigstens ein paar Minuten länger den tödlichen Strahlen zu widerstehen. Und dann hätte er die Eltern vor den Augen von Marseille umgebracht. Wie, wusste er nicht, aber er wollte sie, Jilal und seine hochnäsigen Eltern in ihrem eigenen Blut ersticken lassen.

Ob es weise war, diese Gedanken zu haben? Er glaubte zwar nicht, dass es gut war, sie zu denken, aber solange er keine Möglichkeit hatte, gegen die Vampire zu bestehen, hoffte er einfach, dass sie seine Gedanken nicht hören konnten.

Mittlerweile hatte er auch ein neues Buch der Altvorderen. Dieses schien eher theoretischer Natur zu sein - gut, für ihn war alles theoretisch, weil er keine Magie besaß - und beschäftigte sich mit den Möglichkeiten, welche Magie auf lebende Organismen hatte. Es ging zwar vornehmlich darum, krankes Gewebe irgendwie abzutrennen, nachwachsen zu lassen und dauerhaft gesund zu halten, aber für Myrtax klang das danach, als wollten die Altvorderen das ewige Leben erforschen. Dies würde ihm auch gefallen. Nur würden die Erkenntnisse der Altvorderen auch für Menschen gelten? Oder Vampire?

Nun, zumindest der Seelenzauber, den Jilal vor Monaten benutzt hatte, schien dies zu tun. Ob er auch hielt, was er versprach, würde nur die Zeit zeigen und Myrtax würde es wahrscheinlich nicht mehr erleben.

Es ging nun langsam auf Mitternacht zu und der junge Sklave vertrieb sich die Zeit mit müßigen Gedanken um Rache, Magie und sein Essen, als die Tür aufging und ein anderer, etwas älterer Sklave hinausschaute.

"Die hohen Herrschaften würden dann empfangen.", sprach er mit einer Hochnäsigkeit, die einem Vampir alle Ehre machte. Myrtax hatte den Namen des Dieners - er war ein Diener, denn er trug kein Halsband - zwar schon öfter gehört, aber immer wieder vergessen.

"Danke." Myrtax trat an dem Diener vorbei in das gemütlich eingerichtete Gemach. Es roch süßlich, als hätte jemand Gewürze verbrannt. Der Herr Simar saß rechts an einem der beiden Schreibtische, die von Regalen flankiert wurden. Er schrieb etwas auf dem Tisch vor sich, eine Feder kratzte über Pergament.

Linkerhand werkelte die Herrin Rovinna auf ihrer langen Werkbank an einer Apparatur aus Holz, ein sanfter Schimmer ging von ihrer schönen Hand aus. Leise knisterte etwas in dem Apparat, etwas knackte leise. Die Werkbank verdeckte einen Teil des in den Boden eingelassenen Badezubers. Der Rest lag hinter dem gewachsenen halbrunden Raumtrenner in der Farbe des Baumes.

Direkt neben dem Eingang lagerten zwei weitere Raumtrenner, die man zusammenfalten konnte. Blauer und grüner Stoff spannte sich zwischen den einzelnen Befestigungen, ein gewachsener Blumentopf - konnte man das noch Topf nennen? - befand sich daneben, in dem sich grüne Blätter befanden und fast bis auf den Boden reichten.

Direkt voraus befand sich das dunkelrote Himmelbett des Paares, flankiert von einigen großen Kissen und jeweils einem Rüstungsständer, auf dem jeweils eine rot-schwarze Rüstung hing. Kettenhemd, bewegliche Panzerplatten, Schuhe, Helm, Bogen, Köcher, Schwert und Speer.

Myrtax schaute an den Rüstungsständern vorbei und schluckte, als er aus dem Fenster schaute. In nur wenigen Hundert Metern Entfernung glommen Lichter, hoch erhoben, sogar höher als der Baum der Lachlidan.

"Was ist das?", murmelte er vor sich hin, traute sich aber nicht, die Frage an jemanden bestimmten zu richten oder nach vorne zu treten.

"Das", sprach der Diener leise neben ihm, "ist Leysirith."

Myrtax stutzte. "Ich dachte, wir sind in Leysirith."

"Wir haben dir doch etwas über das Denken gesagt." Rovinna schaute von ihrer Werkbank auf, der Kasten, an dem sie gearbeitet hatte, verschloss sich mit dem Knistern von Holz und sah nur noch wie ein Vogelhaus ohne Eingang aus. Es hatte sogar ein kleines Dach, bewachsen mit Moos.

Myrtax fragte erst gar nicht und schaute die Herrin nur an. Mittlerweile konnte er dies tun, ohne eine sofortige Bestrafung erwarten zu müssen. Nur durfte er seinen Blick nicht tiefer senken als ihr Hals. Was ihm sehr leicht viel, ihre Reize waren verschwendet an ihn. Ihre rötlichen Augen fesselten besser als jedes Seil.

"Nicht tun.", wiederholte Myrtax die eindeutige Aussage.

"Richtig. Dennoch tust du es." Das Glühen an der Hand der Frau verschwand. Myrtax musste sich immer wieder daran erinnern, dass auch die Herrin Rovinna eine Druidin war. Sie war die Herrscherin über das Anwesen, die Sklaven, die Diener und allem, was darin lebte. "Aber was erwartet man auch von einem Menschen, der nicht einmal die Bedeutung eines guten Blutweins versteht?"

Ihre roten Augen schienen zu leuchten, als sie einen Schulterblick aus dem Fenster warf, aber als sie Myrtax anschaute, waren sie kalt und hart wie geschliffene Rubine.

"Der ganze Bereich heißt Leysirith. Was dort hinten leuchtet, ist der große Baum, der denselben Namen trägt...nein, eigentlich trägt die Stadt den gleichen Namen wie der Baum. Dort sitzt der Rat der Sechs, der Älteste und einige andere des Clans. Wir Lachlidan waren seit jeher die Schatzmeister unseres Clans und werden es auch immer sein. Aber was versteht denn ein Mensch schon davon?"

"Nichts, Herrin.", sprang Myrtax ihr rasch bei und hoffte, sie milde zu stimmen. "Ich bin nur ein Sandkorn auf dem Weg, den Ihr und Euer Mann beschreitet."

"So ist es.", lächelte sie ihn an und ihm wurde eisig kalt. "Also, was hast du mir zu erzählen? Hat der Zauber irgendetwas bewirkt?"

"Nichts, was sich auf Marseille unmittelbar ausgewirkt hätte.", berichtete Myrtax, stand gerade und nahm die Arme nach hinten. "Allerdings scheint Euer Sohn wieder zu forschen, wobei ich nicht sagen kann, an was. Er schafft Kristalle heran, eine nicht gerade kleine Menge, möchte ich sagen."

"Kristalle? Das sind magische Konduktoren. Wozu braucht er sie?"

"Ich weiß es nicht, Herrin. Ich verstehe nichts von Magie und weiß auch nicht, was ein Kondakter ist."

"Konduktor.", korrigierte sie ihn ungehalten, rieb sich das Kinn, zuckte mit einer Schulter und schaute zu ihrem Mann, der ungerührt auf dem Pergament kritzelte, hin und wieder ein Blatt zu Rate zog und weiterschrieb. "Er hat sich auch einen Sklaven geholt. Niemanden, den wir vermissen werden auf Dauer, aber er scheint wieder etwas zu planen. Wieder in diesem Haus?"

"Ja, Herrin. Dieses Mal nicht in der Werkstatt, sondern im Keller des Hauses. Ich kann aus der Richtung nur vermuten, dass der Gang nach Westen führt."

"Wir kennen den Gang und das Haus.", murmelte Simar leise. "Wir wissen, wem es gehört und beobachten ihn."

"Oh. OH!" Myrtax grinste schief. Das konnte ja nur schlecht für Jilal enden. Hoffentlich. "Ich verstehe. Wenn Ihr etwas von mir braucht, sagt es ruhig."

"Wir befehlen es dir schon früh genug.", antwortete der Mann, seine Stimme so kalt wie das Gold, das er vermutlich zählte als Schatzmeister der Lachlidans.

"Ja, mein Herr." Myrtax verneigte sich steif aus der Hüfte.

"Was macht Marseille?", lenkte Rovinna seine Aufmerksamkeit wieder auf sich, die Arme vor der Brust verschränkt, das Gleichgewicht auf ihr rechtes Bein verlagert.

"Sie...fürchtet sich. Ob mehr oder weniger, kann ich nicht sagen. Der Herr Jilal befiehlt ihr und sie tut es. Der Herr Jilal befiehlt mir und ich tue, was er verlangt."

"Wird sie schon rund?"

"Nein, Herrin."

"Du bist dir sicher?"

"Herrin, darf ich frei sprechen?"

"Eigentlich nicht, aber spuck es aus." Sie lächelte immer noch eisig, aber irgendwie schien es ihr Spaß zu machen. Als würde sie ihn herausfordern. Die Herausforderung nahm er nur zu gerne an.

"Der Herr Jilal zwingt mich fast jede Nacht, entweder zuzusehen oder die Herrin Marseille vor seinen Augen auszuziehen, sie manchmal sogar zu waschen, wie Ihr wisst."

"Warum nennst du sie Herrin?" Die Arme der Herrin Rovinna sanken herab, als würde sie ihn gleich schlagen wollen.

"Aber ist sie das nicht?" Myrtax hob fragend beide Augenbrauen. "Sie hat doch Euren Sohn geheiratet, trägt also den Namen der Lachlidan. Für mich wäre sie eine Herrin."

"Hm, ja, für dich wäre sie eine Herrin. Nimmst du von ihr Befehle an?"

"Sie hat mir noch keine erteilt."

"Dann nimm keine an. Sie hat nicht die Befugnis dazu." Rovinna schürzte die Lippen, hob eine Schulter. "Gut, nenne sie Herrin, aber eigentlich sollte sie dir anbieten, sie beim Namen zu nennen."

"Das verstehe ich nicht, Herrin."

"Brauchst du auch nicht. Nun gehe, beobachte unseren Sohn weiter."

"Herrin?" Myrtax räusperte sich. "Gehe ich recht in der Annahme, dass etwas gegen Euren Sohn unternommen werden soll? Damit ich aus dem Weg gehen kann, selbstverständlich."

"Auch das geht dich nichts an. - Geh, berichte uns morgen wieder zur gleichen Zeit."

"Ja, Herrin. Eine angenehme Nacht wünsche ich." Myrtax verneigte sich besonders tief, bevor er sich umdrehte und den Raum verließ. Erleichtert wischte er sich über die Stirn, welche allerdings trocken war. Nur sein Rücken war etwas verschwitzt. Langsam gewöhnte er sich an die nächtlichen Berichte.

Wieder etwas gelernt. Es war erstaunlich, wie viel die Vampire preisgaben, wenn man ihnen etwas Zeit ließ und ihnen gut zuredete. Eigentlich könnte er damit gut sein Leben verbessern. Langsam vielleicht, aber auf Dauer würde es sich verbessern. Es war nur die Frage, wie es sich noch verbessern konnte. Wenn man vom fehlenden Finger absah und der dauernden Gefahr, irgendwie gebissen oder getötet zu werden.

Rasch suchte er sein Zimmer auf, trank von dem klaren Wasser, um den Mund zu befeuchten, ging sich erleichtern und nahm wieder den Weg hoch zum Gemach des Herrn Jilal.

Der adlige Vampir hatte ein dickes Buch unter dem Arm geklemmt und war dabei, sich die Stiefel anzuziehen, als Myrtax eintrat.

"Da bist du ja.", grummelte der Vampir, stand in einer fließenden Bewegung auf und warf seine langen braunen Haare nach hinten, die seiner dunklen braunen Haut in nichts nachstanden und ihr schmeichelten.

"Ja, Herr." Myrtax verneigte sich rasch, folgte dem Vampir wieder in den dunklen Tunnel unterhalb des großen Anwesenbaumes und nahmen die gewohnte Route zu dem Haus des Handwerkers.

Nachdem sie die Abzweigung mit den vielen Gängen passiert hatten, traute sich Myrtax endlich.

"Herr? Warum ich? Warum habt Ihr mich zu Eurem persönlichen Diener auserwählt?"

"Ist das nicht offensichtlich?", schnaufte der Vampir kalt. "Du bist allein. Niemand kümmert sich um dich. Hast keine Freunde, keine Familie, dein Blut schmeckt gut und es schert sich niemand um dich."

"Das...war erstaunlich offen, Herr."

Jilal schnaufte, dann lachte er und es war kein fröhliches Lachen. "Ich könnte dich hier einfach ausweiden und niemanden würde es interessieren und du sorgst dich nicht?"

"Ich sorge mich, Herr. Aber ich möchte euer Gemüt damit nicht belasten."

"Du belastest mein Gemüt nicht. Du belastest mich gar nicht, Menschlein.", lachte der Vampir wieder. "Wenn du mir auf das Gemüt schlägst, dann sauge ich dich einfach aus und hole mir einen neuen Sklaven."

So wie mit Huria, dachte Myrtax und hatte wieder den ekligen Geruch nach Kupfer und Eingeweiden in der Nase.

"Danke, Herr. Für Eure Ehrlichkeit.", sprach er rasch und duckte sich, um nicht an einer der schwarzadrigen Wurzeln hängenzubleiben.

Wieder traten sie aus dem Gang in den Keller, blieben aber dieses Mal dort und stiegen erst nicht in die Werkstatt hoch. Der Boden des Kellers war aus Stein, die Wand mit dem Gang war festgeklopfte Erde, die drei anderen Wände aus gehauenem Stein. Kerzen brannten in niedrigen Halterungen, beleuchteten den Keller nur unzureichend.

Marseille war schon dort, gewandet in schwarzes Kleid, welches ihre Konturen verdeckte und nur ein wenig von ihrem Hals zeigte. Kaum sichtbare, rote Nähte zeigten den eigentlich sehr aufwändigen Schnitt des Kleidungsstücks. Sie hatte die Arme verschränkt und schaute nicht besonders glücklich drein, was allerdings mehr und mehr zum Alltag wurde.

In der nordwestlichen Ecke war ein Mann an die Wand gekettet worden. Seine muskulösen Arme wurden von den starken Ketten nach hinten gehalten und er schien mehr wütend als ängstlich zu sein. Er ähnelte sehr Jaloquin, war es aber nicht. Auch einer der Sklaven, die Myrtax nicht kannte. Mehr und mehr wurde ihm bewusst, wie klein seine Welt eigentlich gewesen war. Dabei war das Anwesen nicht so groß.

Vor dem Mann hatte irgendwer - vermutlich Marseille - Runen mit Kreide auf den Boden gemalt. Einige davon erkannte Myrtax sogar. Wieder ein Zauber der Altvorderen und dieses Mal konnte er Zeit entziffern.

Um die Runen in einem Halbkreis waren sehr viele Kristalle in ordentlichen Bahnen auf Kreide gelegt worden, sodass es aussah, als wäre der Mann die Sonne und die Kristalle die Sonnenstrahlen. Der Sklave schwitzte und war ein Mensch, denn er besaß keine Fandaloré auf der Schulter. Erneut ein Opfer für Jilals magische Selbstausbildung. Wofür war das denn jetzt wieder gut? Myrtax hatte irgendwie das Gefühl, dass er es gleich erfahren würde.

"Gut gemacht, liebste Marseille.", raunte Jilal, strich ihr über die Wange. "Ich selbst hätte es kaum besser machen können."

"Ja.", murmelte Marseille, ihre Knöchel wurden weiß, als sie die Hände zusammenpresste, unbemerkt von ihrem Gatten. "Danke."

"Nun denn. Mensch, komm her." Jilal befahl Myrtax mit einer harschen Geste zu sich, drückte ihm das geöffnete Buch in die Hand, sodass Myrtax als menschlicher Buchständer herhalten musste. Jilal beförderte zwei weitere Kristalle aus seiner Hosentasche, die jeweils einen Halbkreis bildeten. Offenbar waren sie so geformt worden, denn Myrtax bezweifelte, dass sie so perfekt rund gewachsen und dann so perfekt in der Mitte auseinandergebrochen waren.

"Halt das so." Der Vampir drehte Myrtax seitlich zu dem Sklaven, sodass das Licht der Kerzen auf die dicht beschriebenen Buchseiten fiel. "Wenn ich jetzt sage, blätterst du weiter. Schnell, aber mach die Seiten nicht kaputt."

"Ja, Herr, verstanden." Myrtax schluckte, seine Kehle war etwas trocken und das Buch nicht gerade leicht. In dem Moment wünschte er sich ganz weit fort, denn was immer nun passierte, würde ihn zum Mitwisser machen und das brachte ihn in eine ganz prekäre Lage. Mal abgesehen davon, dass er Simar und Rovinna berichten musste.

Jilal schlug die beiden Kristalle sachte zusammen. Es klirrte melodisch und die beiden Halbkreise begannen sanft zu leuchten. Nun begann der Vampir Wörter in der Sprache der Altvorderen zu zitieren und linste dabei hin und wieder in das Buch, welches Myrtax offenhielt.

Auf jeden Befehl des Vampirs blätterte der Sklave eine Seite weiter. Der Zauber schien nicht nur lange zu dauern, sondern auch sehr kräftezehrend zu sein, denn auf der Stirn von Jilal begannen sich Schweißtropfen zu bilden; etwas, was der Sklave bisher so noch nicht gesehen hatte. Bei keinem Vampir.

Nach und nach begannen die Kristalle in einem sanften Blau zu leuchten, die äußersten Kristalle richteten sich leise klimpernd auf ihre spitzen Enden auf, bevor sie sich in Richtung des Sklaven neigten, der nun ebenfalls auf der Stirn Schweißperlen hatte und mit großen Augen panikartig an seinen Ketten riss.

Myrtax blätterte weiter und roch nun den leichten Schweiß von Jilal, sein Hemd war eingefärbt. Der Zauber musste einiges an Kraft kosten.

"Khaltrho!", rief Jilal plötzlich aus, schlug die beiden Halbkreise zusammen, welche einen blauen Blitz von sich gaben, der Myrtax und Marseille kurz blendete. Nun klirrten und klapperten die Kristalle, bevor sie wie von einem Bogen abgeschossen auf den Sklaven zurasten. Dieser schrie, als die ersten Kristalle ihn trafen und, anstatt ihn zu verletzen, in seine Haut einsanken.

Die restlichen Kristalle folgten, trafen Haut und Knochen, sanken darin ein. Nach und nach hörten die Bewegungen des Sklaven auf, seine Augen wurden starrer und seine Haut bekam eine leicht bläuliche Färbung.

Als der letzte Kristall in der Brust des Mannes einsank, gab es ein merkwürdiges Geräusch, als würde Stoff zerreißen, nur andersherum. Es schien von dem Mann zu kommen, der sich nun nicht mehr rührte und auch nicht mehr zu atmen schien.

Jilal ließ die Arme sinken, tappte erschöpft zu dem starren Mann, tippte an Wangen, Arme, Bauch und Brust, hielt ihm sogar die Hand vor die Nase, bevor er einen Jubelschrei ausstieß, zu Marseille zurückeilte und sie überschwänglich küsste. Mit der Reaktion hatte weder sie noch Myrtax gerechnet, solch ein Gefühlsausbruch war eher selten bei Vampiren.

"Geschafft.", hauchte er der schönen Vampirin auf den Mund.

"Was hast du geschafft?", fragte sie erstaunt zurück, ihre Ängstlichkeit sah auf den ersten Blick aus wie weggeblasen.

"Macht.", grinste Jilal, riss Myrtax das Buch aus den Händen und schlug es laut wieder zu. "Was du hier siehst, ist einer der wenigen Zeitzauber der Altvorderen, soweit er uns bekannt ist. Ich habe diesen Sklaven in der Zeit eingefroren. Er wird nicht altern, er wird nicht sterben, er wird alles mitbekommen, was um ihn herum geschieht und kann nichts dagegen machen."

Er lebte noch? Myrtax schaute hin und sah, wie sich die Augen des Mannes noch bewegten. Das hatten sie gerade nicht getan.

Was ein boshafter Zauber. Was ein anstrengender Zauber. Wozu...

"Wozu?", fragte auch Marseille, lugte an Jilal vorbei. "Was hat der Sklave dir getan, mein Gemahl?"

"Gar nichts." Jilal klopfte auf das Buch. "Es wird Zeit, dass meine Eltern ihren Ruheabend eingehen und weitere zehntausend Jahre Seite an Seite leben und ihren Platz räumen."

Er schlang den Arm um die schlanke Vampirin. "Einen Platz für dich und mich. Wir werden Seite an Seite herrschen als die Schatzmeister der Lachlidan. Und das soll erst der Anfang sein."

"Du...und ich?"

"Ja. Denn du gehörst zu mir."

"Ja." Marseille nickte, aber mehr konnte Myrtax nicht erkennen; nicht, ob sie ängstlich oder fröhlich war oder sogar erfreut.

Nun, das würde jetzt interessant werden. Der Sklave befand sich nun in noch größerer Gefahr als angenommen. Und wieder hörte er dieses Lachen in seinem Kopf, nur dieses Mal beinahe schadenfroh.

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